Kleine Einführung in den Kriminalroman
Im Jahre 1920 stellte der Krimiautor SS van Dine die zwanzig goldenen Regeln des Kriminalromans auf: Die Nummer Sieben in SS VanDines Regelwerk der Krimiliteratur ist bis heute unumstößliches Gesetz: Ein Krimi erfordert mindestens eine Leiche, je toter umso besser. Selbstverständlich ist die ganze Palette des Strafgesetzbuchs legitimer Gegenstand der Gattung. Aber ohne Mordopfer ist das alles nichts, kommt der Gefühlshaushalt des süchtigen Krimiviellesers nicht in Schwung. Damit ist die Gattung natürlich noch keineswegs definiert. Denn neben Sex und Erotik ist Mord seit eh und je von derart brennendem Interesse für die Menschheit, dass auch der Kanon der Weltliteratur nicht ohne ihn auskommt. Also sind sowohl die Blutepen, die das Alte Testament erzählt, wie auch Shakespeares mörderische Königsdramen, oder Dostojewskis Roman Schuld und Sühne gewiss alles hochspannende Stoffe – aber eben nicht Bestandteil des Genres Kriminalliteratur.
Wir nähern uns der Frage Was zum Teufel ist eigentlich ein Kriminalroman? eine uferlose Debatte, die speziell in der deutschen Literaturwissenschaft gepflegt wird – für den Fan übrigens so relevant wie ein Loch im Kopf – und ein bisschen an die Diskussion der mittelalterlichen Scholastik erinnert, wie viele Heilige auf einen Stecknadelkopf passen. Unumstrittener Kern des Genres Kriminalliteratur sind Stoffe, in denen es einen oder mehrere Ermittler gibt, die folgenden Fragen nachgehen: Wer hat das Verbrechen begangen? (Whodunnit). Und Wie war der Tathergang? (Howdunnit). Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Wuchern der Geheimdienste wurde die Frage hinzugefügt: Wer war der Maulwurf – wurde der Spionage und Politthriller allmählich in die Gattung Kriminalliteratur integriert.
Durch die Fragestellung Wer wars aber schon nicht mehr erfassbar sind Chandlers Romane um den Privatdetektiv Philipp Marlowe. Denn die Morde liegen zu Beginn der Romanhandlung noch in der Zukunft. Und wenn die Gewalttat passiert, spielt sie sich oft geheimnislos vor den Augen des Lesers ab. Im Plotaufbau unterscheidet sich die große US-Detektivliteratur nicht vom Handlungsschema eines besonders schmutzigen sozialkritischen realistischen Romans. Und gänzlich versagt das Schema Ein Detektiv klärt ein begangenes Verbrechen auf bei den Mafia- oder Gangsterepen eines Mario Puzo oder eines Elmore Leonard, in der es nicht um die Aufklärung eines Verbrechens geht, sondern höchstens darum, welche Straftat begeht der Schurke als Nächstes.
Stellen wir also fest: Die Gattung Mord und Totschlag hat ein geradezu anarchistisches Wesen – der Kriminalroman verweigert sich beharrlich der Schubladensortierung, die Literaturwissenschaftler so überaus schätzen. Wahrscheinlich fruchtbarer für die Standortbestimmung des Kriminalromans ist die Rückbesinnung auf seine Entstehungsgeschichte. Der Krimi, das Kellerkind der Belletristik, er ist noch weit aus mehr als sein wohlanständiger Bruder, der Roman des bürgerlichen Zeitalters, ein Kind der Aufklärung und einer gewissen geordneten Staatlichkeit.
Bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gab es keinen im modernen Sinne der Aufklärung eines Verbrechens verpflichteten Polizeiapparat. Die Beamten der Obrigkeit waren vor allem geschult in der Verhaftung politischer Gegner und in der Niederschlagung von Hungeraufständen.. Bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts waren Indizien kein anerkanntes Beweismaterial, sondern nur die Aussagen mehrerer Tatzeugen. Da diese selten zur Hand waren, war das Geständnis des Täters die übliche Grundlage einer barbarischen Strafsystems, das auch noch für die harmlosesten Eigentumsdelikte nur die Todesstrafe kannte. Im Regelfall wurde das Geständnis des Täters durch Folter erzwungen.
Unter solche historischen Bedingungen eine Krimihandlung anzusiedeln, in der ein intelligenter Detektiv redlich und rational die Fakten sortiert, um den Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen, ist ähnlich absurd anachronistisch und einfach schlicht albern , als wenn man in einer Detektivhandlung, die vor dem Ersten Weltkrieg spielt, das Vorhandensein des Internet unterstellen würde. Sie können daraus sehen, was ich von Mittelalterkrimis halte. Nichts: dreifaches Ausrufezeichen. Ohne ein Minimum an Demokratie und formaler Rechtsstaatlichkeit funktionieren weder der klassische Detektivroman, noch sein Zwillingsbruder, der Spionage- oder Politthriller. Das gilt auch für die Gegenwart. In einem System, in dem man Geständnisse durch Folter erzwingt und Menschen nach falscher Klasse oder Rasse oder Religion sortiert, um sie zu diskriminieren, in Konzentrationslager zu sperren oder einfach physisch zu eliminieren, kann es keinen Kriminalroman geben.
In DDR-Romanen durften Verbrechen nur vom Klassenfeind begangen oder als Ausdruck veralteter bürgerlicher Einstellungen dargestellt werden. Es hat zwanzig Jahre praktizierte Demokratie benötigt in der alten BRD, bis Mitte der Sechziger die ersten annehmbaren Krimis erscheinen konnten. Erst seit Francos Tod gibt es spanische Kriminalliteratur. Erst seit Einführung der formalen Demokratie unter Boris Jelzin beginnt in Russland der Detektivroman zu aufzublühen.
Die beiden wesentlichen Voraussetzungen für das Funktionieren von Kriminalromanen sind also ein den Grundsätzen des Rechtsstaats verpflichteter und planvoll vorgehender Polizei – und Justizapparat.
Die USA und Großbritannien hatten in Ansätzen seit dem späten achtzehnten Jahrhundert durch das System der Geschworenengerichte eine geordnete liberale Strafgerichtsbarkeit installiert: Eine Jury unbescholtener Bürger entschied über schuldig oder nicht schuldig, ein juristisch geschulter Richter sprach Rechtsbelehrungen und das Strafmaß aus, es gab einen juristisch geschulten Vertreter der Anklage und einen des Angeklagten.
Die Franzosen hingegen gründeten im Jahre 1810 die erste moderne rational ermittelnde Polizei, sie sind die Erfinder der Kripo, wie wir sie heute kennen. Ihr Gründer war der fünfunddreißig Jahre alte Berufsverbrecher Eugène Francois Vidocq. Er hatte jahrelang in Ketten geschmiedet im Kerker mit den Cornus verbracht Eine berüchtigte französische Mördersippe, die ihre Kinder bereits zum Mord erzog, und – zur Gewöhnung – mit den Köpfen der Toten spielen ließ. 1810 unterbreitete der noch immer zur Fahndung ausgeschriebene Vidocq der Pariser Obrigkeit ein Angebot, das Justizgeschichte schreiben sollte. Der Handlungsdruck der verzweifelten Behörden war riesig: Das Chaos der Revolution und der napoleonischen Kriege hatte die Massen entwurzelt und das Verbrechen explosionsartig in die Höhe schnellen lassen.
Der amtierende Pariser Polizeipräfekt Baron Pasquier beauftragte Vidocq mit der zentralen Bekämpfung des Verbrechens in Paris. Um seine Rolle vor der Unterwelt zu tarnen, wurde er zum Schein verhaftet. Seine nachfolgende Entlassung vollzog sich unter dem täuschenden Mantel eines neuerlichen Ausbruchs. In der Nähe der Polizeipräfektur bezog Vidocq eine Art Hauptquartier. Seine Mitarbeiter wählte er selbst nach dem Grundsatz aus, dass das Verbrechen nur durch Verbrecher bekämpft werden könne. Er beschäftigte zunächst vier, später zwölf, dann zwanzig ehemalige Häftlinge, die er aus einem Geheimfonds bezahlte und einer eisernen Zucht unterwarf. In einem einzigen Jahr verhaftete er mit nur zwölf Leuten achthundertzwölf Mörder, Diebe Räuber und Betrüger.
Nach kurzer Zeit erhielt Vidocqs Organisation den Namen Sureté (Sicherheit) und entwickelte sich in zwanzig Jahren zur ersten funktionierenden Kriminalpolizeibehörde der Welt. Ein ausgefeiltes System von bezahlten Informanten, intimste Kenntnis der Verbrecherwelt, ein einmaliges fotografisches Gedächtnis und eine für die Epoche einmalige Verbrecherkartei bildeten die Grundlage seiner Arbeit. Bis er im Jahre 1833 gehen musste, weil es die öffentlichen Meinung nicht mehr ertrug, dass die Sureté von einem ehemaligen Berufsverbrecher geführt wurde. Vidocq gründete danach das erste Privatdetektivbüro der Welt und beriet Autoren wie Balzac als Autorität in Sachen Verbrechen.
Die durchaus ehrenwerte Furcht des englischen Bürgertums und des Unterhauses vor der Beschneidung der bürgerlichen Freiheiten durch den Staat verhinderte bis 1829 den Aufbau einer Polizeistreitmacht in Großbritannien. 1828 lebten in London 30.000 Personen ausschließlich von Verbrechen. Auf 822 Einwohner kam ein Berufskrimineller Lediglich 15 Kriminalisten kannte die Millionenmetropole, die in der Bowstreet stationierten sogenannten Bowstreet Runner. Zum Teil durchaus instinktsichere Kriminalisten, waren sie ohne Ende korrupt. Reiche Leute konnten ihre Dienste mieten. Sicherheit für Leib und Leben garantierte nicht der Staat, die musste man käuflich erwerben. 1828 gab es ganze Bezirke, in denen man am hellen Tage ermordet werden konnte. Am siebten Dezember 1829 zogen tausend neu angeworbene Polizisten in blauen Fräcken und grauen Leinwandhosen, einen schwarzen Zylinder auf dem Kopf, durch die Strassen Londons zu den über die Stadt verteilten Polizeistationen. Die Zylinder sollte den Bürgern vor Augen führen, dass nicht Soldaten ihren Schutz übernahmen, sondern Bürger.
Es bedurfte einiger bestialischer Morde, um dem Staatssekretär des Innern 1842 zu Gründung der ersten britischen Kripo zu bewegen. Zwölf Beamte zogen ihre Uniform aus und wurden Detektive. Sie bezogen drei kleine Räume in einem Gebäudekomplex, der früher den schottischen Hoheiten als Quartier gedient hatte, wenn sie den Hof in London besuchten. Daher der Name der Name Scotland Yard, der im Laufe der Jahre zum Inbegriff der englischen Kriminalpolizei geworden ist. Drei der Zwölf gingen in die Geschichte ein: Field, Smith und Wicher. Field war das Vorbild für Inspektor Bucket, Charles Dickens Romangestalt im Roman Bleak House. Es geschah zum ersten Mal in der britischen Literatur, dass sich ein Romanheld mit den Worten vorstellte: Ich bin ein Detective Officer. Aber bis aus diesen Anfängen der berühmte Scotland Yard wurde, auch international gehandelt als eine der besten Polizeiorganisationen der Welt, sollten noch Jahrzehnte vergehen.
Die Kompetenz der Pariser Sureté erreichte Scotland Yard erst um die Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert. 1870 hatte sich die Zahl der Detektive erst auf vierundzwanzig verdoppelt. 1878 reiste der neue Commissioner vom Yard nach Paris, um sich bei der Sureté Anregungen für die Reorganisation der Kripo zu verschaffen. Im Vergleich zu Frankreich steckte die Archivierung bekannter Verbrecher in Fotodateien immer noch in den Kinderschuhen. Die 115.000 Verbrecheralben waren derart unsortiert, dass an einem einzigen Tag im Jahre des Jahres 1893 zweiundzwanzig Beamte in siebenundfünfzig Arbeitsstunden von siebenundzwanzig Häftlingen nur sieben identifizieren konnten. Viele Inspektoren konnten nicht richtig lesen und schreiben. Und das Ansehen der Polizei gerade bei den gebildeten Schichten war immer noch sehr schlecht. Es sank endgültig in den Keller im Herbst 1888, als der Londoner Stadtteil Whitechapel durch fünf unfassbar brutale Prostituiertenmorde aufgeschreckt wurde. Der nie gefasste Schlächter sollte unter dem Namen Jack The Ripper in die Kriminalgeschichte eingehen und zum Alptraum des victorianischen Zeitalters avancieren. In einem Bekennerbrief an die Polizei schrieb er: Ich knöpfe mir Huren vor und werde nicht aufhören, sie aufzuschlitzen, bis man mir Hand anlegt. Er hatte fünf Gelegenheitsprostituierte auf offener Straße erstochen und auf grausamste Art verstümmelt. Nach einmonatiger Pause fand die Polizei sein letztes und sechstes Opfer, die Leiche der zwanzigjährigen Mary Jane Kelly, die Körperteile wie in einem Puzzle des Grauens über ein blutverschmiertes Zimmer verstreut. Danach verschwand der Täter unerkannt.
Entsetzte Zeitgenossen korrespondierten – das ist wirklich wahr – mit dem Londoner Arzt Arthur Conan Doyle über die Frage, was wohl Sherlock Holmes zu den Ripper-Morden sagen würde. Im Jahr vor den Rippermorden im Roman Studie in Scharlachrot zur Welt gekommen, war sein Ruhm schon so überwältigend, dass simpler gestrickte Personen des victorianischen Zeitalters ihn für eine Person der Zeitgeschichte hielten. Im zweiten Roman Im Zeichen der Vier aus dem Jahre
1890 erfährt der Leser die besonderen Kenntnisse des Meisterdetektivs in Listenform:
- Literatur: Null
- Philosophie: Null
- Astronomie: Null
- Politik: Schwach
- Botanik: Bis auf umfassende Kenntnisse in Toxikologie Null
- Geologie: Unterscheidet auf einen Blick die verschieden Erdarten. Nach der Rückkehr von Spaziergängen kann er von den verschiedenen Spazierflecken auf seinen Hosen sagen, aus welchen Vierteln Londons sie stammen.
- Chemie: Umfassende Kenntnisse
- Anatomie: Gründliche, aber unsystematische Kenntnisse
- Kriminalgeschichte: Scheint jede in unserem Jahrhundert verübte Greueltat bis in alle Einzelheiten zu kennen.
- Guter Geigenspieler
- Ausgezeichneter Boxer und Fechter
Ein Übermensch: Der seine detektivische Methode so erklärt: Wenn man alles ausgeschaltet hat, was unmöglich ist, bleibt am Ende etwas übrig, das die Wahrheit enthalten muss, mag es auch noch so unwahrscheinlich sein. Mit Holmes tritt der literarische Detektiv direkt ins wissenschaftliche Zeitalter. Er verlässt sich nicht ausschließlich auf seine analytischen Fähigkeiten und Instinkte, sondern vor allem auch die Hilfsmittel, die ihm die moderne Wissenschaft zur Verfügung stellt. Mikroskop und chemische Analyse werden wichtiger als soziale Zusammenhänge und psychologische Hintergründe. Das erklärt den ungeheuren Erfolg Doyles in der fortschrittsgläubigen britischen Gesellschaft. Die gerade diesen Aspekt bei ihrer Polizei zu Recht vermisste. Nach heutigen Maßstäben war der durchschnittliche Scotland Yard Beamte des Jahres 1888 ein extrem schlecht ausgebildeter Kriminalist. Man konnte froh sein, wenn ein angeborener gesunder Menschenverstand zu einigermaßen vernünftigen Ergebnissen führte. Das Ansehen der Polizeiorgane entsprach dem des Inspektor Lestrade in den Holmes Romanen: Wenn sie nicht gerade bestechlich waren, roh, ungebildet und vertrottelt waren sie allemal. So erklärt es sich, dass in der britischen Kriminalliteratur bis zum Zweiten Weltkrieg der hochgebildete Amateurdetektiv, in der US-Krimiliteratur aus den gleichen Gründen der honorige unbestechliche Privatdetektiv so häufig auftauchte.
Doyle gelang auf Anhieb der perfekte Whodunnit, der fast perfekte gestrickte Indizien- und Rätselkrimi, in dem der Leser drauf kommen könnte, denn er weiß soviel wie der Protagonist. Dass er dabei in den Fußspuren Poes wandelt – 1848 erschien mit dessen Kriminalkurzgeschichte Der Mord in der Rue Morgue der erste Krimi überhaupt tut Doyles Leistung überhaupt keinen Abbruch. Denn Poe war groß als Horrorautor, seine Krimis befanden sich noch im Experimentierstadium. Mit Studie in Scharlachrot, achtundsiebzig Jahre nach Gründung der ersten Kripo der Geschichte in Paris, hat sich der Kriminalroman mit voller Wucht als neues Genre der Massenunterhaltung etabliert. Denn der Erfolg war sofort riesig Der Krimi sollte die Unterhaltungsliteratur des neuen Jahrhunderts werden. Bis 1920 erschienen in der englischsprachigen Welt 1300 Krimititel, von 1920 bis 1940 schon 8000 von 1940 bis 1960 schon 15000 Titel..
Scotland Yard setzte ab dem Jahre 1901 als erste Polizeibehörde der Welt auf die Daktyloskopie als das Mittel der Identifizierung schlechthin. Sir Edward Henry hatte als Polizeichef Bengalens in Kalkutta ein brauchbares, bis heute verwendetes System der Klassifizierung von Fingerabdrücken entwickelt. Seit 1901 Police Comissioner in Scotland Yard, boxte er zusammen mit dem charismatischen Vertreter der Anklage, Henry Muir, den Fingerabdruck in spektakulären Prozessen als probates Beweismittel durch und überzeugte damit Presse und Öffentlichkeit. Zum ersten Mal in seiner Geschichte bekam der Yard ein positives Image.
Die Identifizierungserfolge waren dramatisch. Innerhalb eines einzigen Jahres identifizierte die neue Fingerabdruckabteilung 1722 Vorbestrafte. Im Jahre 1910 bei der Verurteilung des Giftmörders Dr. Crippen, feierte die britische Gerichtsmedizin ihren ersten großen Triumph. 1928 verwendete der Yard als erste europäische Polizeiorganisation das sogenannte Vergleichsmikroskop, das die Zuordnung von Kugeln zu einer bestimmten Waffe ermöglicht.
Ende der zwanziger Jahre war Scotland Yard die professionellste Polizeibehörde der Welt. Kein Grund also, nicht auch in der Literatur auf den Einsatz von Amateurdetektiven zu verzichten. Dass sich diese Entwicklung nicht so schnell vollzog, liegt an zwei Autorinnen, die den britischen Krimi auf nachhaltigste Weise geprägt haben. Sie haben ein Krimisubgenre geschaffen, dass der Brite Cosy nennt (wortwörtliche Übersetzung: Eierwärmer) und für das der frühere Krimikritiker der FAZ Jochen Schmidt, den schönen Ausdruck Britische Häkelschule erfand. Südengland im Juni, gefällig gehügelt, kleine Cottages, von Rosen und Geißblatthecken umgeben, vertrottelte indische Majore, schnell verlegen werdende Vikare und Detektive, die eine dandyhafte Mischung aus Aristokrat und Künstler sind:
Agatha Christie verfasste zwischen 1920 und Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts ungefähr 80 Krimis mit einer Weltauflage von weit über 500 Millionen Exemplaren. Das Personal besteht aus angenehm versnobten Leuten der oberen Mittelklasse, Opfer und Mörder sind austauschbar. Das Problem heißt grundsätzlich: Wer tat es, das Rätsel wird nie vom Motiv her gelöst, sondern immer nur durch die Indizien. Mordmotive haben im Grunde alle Figuren. Ihre Protagonisten sind der eierköpfige Belgier Hercule Poirot auf der einen und in einem Dutzend Romanen Miss Jane Marple auf der anderen Seite, die nie aus ihrem Dorf St. Mary Mead heraus kommt. Beide Protagonisten sind im Grunde Gehirnakrobaten, Meister der Deduktion, das haben sie mit Holmes gemeinsam. Aber im Unterschied zu Holmes sind sie keine intellektuellen Maschinenmenschen, nur Hirn und sonst nichts, sondern haben eine ausgeprägte psychische Struktur. Wie auch die Nebenfiguren der Christie.
Christie wird gerne unterschätzt. Es stimmt, dass sie ihre Leser beschummelt, der Detektiv hat am Schluss immer eine Information mehr, ohne die der Plot nicht lösbar ist. Und es ist richtig, dass sie ihre Krimis immer nach der selben Masche maschinell häkelt. Wer soviel schreibt, ist halt Chef eines Wortkonzerns, wo die Klischees nur so in Massenproduktion gehen. Aber es gibt eben nicht nur den Unterschied zwischen guten und schlechten Büchern. Sondern viel wichtiger ist der Unterschied zwischen schlechten schlechten und guten schlechten Büchern. Wie Grisham und Chrichton und gehört Agatha Christie zu denen, die saugute schlechte Bücher schreiben.
Zwei Gründe: Sie ist die Meisterin im Konstruieren von Spannungsbögen. Sie weiß, wann sie neues Personal aufbieten muss, sie weiß, wann sie Gas geben oder den Fuß vom Gaspedal nehmen muss. Nicht umsonst wird sie immer wieder aufs Neue von der Altersgruppe entdeckt und verschlungen, der es nur auf Tempo ankommt: Kindern und Jugendlichen. Und sie hat den Geruch für den Gestank des Bösen und Gemeinen und glaubt, dass es in jedem von uns steckt. Deshalb hat auch immer jede ihrer Personen ein Mordmotiv. Agatha Christie glaubt nicht an Unschuld. Schließlich war sie die erste Krimautorin, die mit dem Titel Das krumme Haus einen Roman verfasste, in dem ein Kind der Mörder ist. Und das finde ich höchst modern.
Dorothy Sayers war eine der ersten Frauen Englands mit abgeschlossenem Hochschulstudium. Und ihr ambitioniertester Krimi thematisiert genau das. In ihrem schönsten Roman Aufruhr in Oxford ruft die Rektorin eines Frauencollege die Kriminalschriftstellerin Harriet Vane und deren Freund, Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey um Hilfe, weil der Täter Frauen offensichtlich deswegen attackiert, weil sie akademische Ambitionen haben. Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey ist zweiter Sohn des Herzogs von Denver, traumatisiert durch die Schützengräben des Ersten Weltkrieges in Flandern. Vor schnöder Arbeit bewahrt ihn sein Privatvermögen. Gerettet vor der Verschüttung in den Schützengräben hat sie ihn sein jetziger Butler Bunter, der bei seinen Mordfällen als Fingerabdruckexperte und Spurensicherer fungiert. Harriet Vane ist Kriminalschriftstellerin, wurde durch Lord Peters Ermittlungen vor der Todesstrafe bewahrt und wird im letzten Roman von Sayers mit Lord Peter verheiratet sein. Shakespeare-Zitate, verschmockter spleeniger Humor, eine Prise Jane Austen Atmosphäre, ein Touch von Gesellschaftsroman, Liebesgeschichte und perfekt konstruiertes Whodunnit-Schema, mit Spannungsbögen, so sauber konstruiert wie bei der Christie. Und eine gute Prise instinktiver Psychologie. Autorinnen wie Elizabeth George und Minette Walters bedienen sich bis heute bei Versatzstücken der Sayers, die erste Queen of Crime, die den Krimi mit schlau eingesetzten bildungsbürgerlichen Elementen auch dem literarisch ambitionierten Leser schmackhaft machte.
Die Handwerkszeuge für bis heute achtzig Prozent aller veröffentlichten Kriminalliteratur liegen damit fast bereit. Was fehlt, fügte ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts das Trio Infernale des Krimis hinzu, das verantwortlich ist für die tiefenpsychologische Aufladung des Genres. Ruth Rendells, Margaret Millars und Patricia Highhsmiths Psychogramme sich selbst zerstörender Unglücksraben, deren Terror sich im eigenen Kopf abspielt, eine Psychologie der Katastrophe, war das, was noch fehlte, um dem Krimi eine subtil höllische Dimension zu verleihen. Die nicht inspiriert ist von kriminologischen Studien, sondern von der Lektüre Freuds, Adlers und Jungs. Den Klassikern der Psychoanalyse eben. Die Lektüre von Rendells, Millars oder Highsmiths Prosa sollten suizidgefährdete Personen am besten vermeiden. Für angehende Autoren, die sich beibringen wollen, wie man die Abgründe von Beklommenheit und Verzweiflung in Millimetern misst und adäquat sprachlich umsetzt, ist sie Pflichtlektüre:
Damit ist der Erfolgscocktail von achtzig Prozent auch der gegenwärtigen erscheinenden Krimiliteratur gemixt. Vierzig Prozent Christie wegen dem Tempo und der guten Schnitte, vierzig Prozent Sayers wegen dem bildungsbürgerlichen Duktus, zehn Prozent Doyle wegen eines sauberen Whodunnit Schemas, fünf Prozent Poe wegen den Horrorelementen, fünf Prozent Rendell und Co. wegen der psychoanalytischen Komponente. Als Zugeständnis an den Zeitgeist und veränderte Realitäten sind natürlich auch in England seit dem Zweiten Weltkrieg die Ermittler Polizisten und keine Amateurdetektive mehr.
Zeit für einen Sprung über den Atlantik:
Der Cellokasten springt auf und im weinroten Samtfutter liegt ein fabrikneues Maschinengewehr. Im Morgengrauen werden die Leichen entdeckt: Der Milchmann auf seiner Runde findet sie neben dem Hydranten, der Liftboy in de Hotelhalle, der Magazinverwalter zwischen den Ölfässern im Schuppen Schwarze, schwer gepanzerte Cadillacs fahren beim Luxusrestaurant, dem Rathaus schräg gegenüber, vor, wo die Mörder ein Bankett zu Ehren der Stadtverwaltung geben. Beim dritten Toast nimmt der Staatsanwalt aus den Händen eines unrasierten Herrn eine goldene Taschenuhr entgegen. Sie ist in einen Scheck gewickelt.
Mit dem obigen Zitat beginnt Enzensbergers Chikagoballade eine Einstimmung in Amerika der Zwanzigerjahre. Amerika im frühen zwanzigsten Jahrhundert, es ist eine andere Wirklichkeit. Deshalb müssen die Krimis völlig anders sein. 1926 registrierte man in den USA mehr als 12.000 Morde, wovon zwei Drittel ungesühnt blieben. Täglich ereigneten sich zwei Banküberfälle. 1934 schätzte man, dass die Zahl der bewaffneten Verbrecher größer war als die Zahl der Soldaten im Ersten Weltkrieg. 1929 war der Wallstreet Crash. 1930 begann die große Depression, die Millionen Amerikaner in die Katastrophe stürzte. Und 1930, von der Kritik auf der Stelle enthusiastisch gefeiert, erschien der erste ernst zu nehmende Privatdetektivroman der Weltgeschichte: Der Malteser Falke, geschrieben vom ehemaligen Detektiv der Agentur Pinkerton, Dashiell Hammett.
Mit der Jagd nach dem Malteser Falken beginnt die Geschichte des hartgesottenen Private Eye. Das schöne und berechnende rothaarige Biest Miß Wonderly alias Brigid O’Shaughnessy schreckt vor keinem Mord und vor keiner erotischen Attacke auf Privatdetektiv Sam Spade zurück, um an das Objekt ihrer pathologischen Begierde, den Falken zu kommen. Das Ende bekommt ihr nicht. Aber bevor Sam Spade die holde Killerin wegen dreifachen Mordes an die Polizei ausliefert, fällt aus seinem Mund der schöne Satz, den Generationen von Hard Boiled Fans seither zitieren: „ If they’ll hang you, I’ll always remember you.“ Die schöne Femme Fatale und der sich zynisch gebende, aber nicht durch Geld und nicht durch Sex verführbare Privatschnüffler – ein Schema, das durch die Marlowe-Romane Raymond Chandlers endgültig zur Erfolgsformel werden sollte.
Der kalifornische Autor Raymond Chandler hat in den 40ern ein Plädoyer für den realistischen Kriminalroman entworfen als Gegenkonzept zu Sayers parfümierten Countrysidedramen, und als Modell für seine sieben Romane um den Privatdetektiv Philipp Marlowe. Und dieser Aufsatz liest sich wie ein Essay über amerikanische Realität in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts: Der Realist der Mordgeschichte beschreibt eine Welt, in der Gangster ganze Nationen regieren können und Städte sogar manchmal regieren und berühmte Restaurants sich im Besitz von Männern befinden, die ihr Geld mit Bordellen gemacht haben, in der ein Filmstar Zuträger einer Bande sie kann und der nette Boss von gegenüber Boss eines Glücksspielsyndikats ist. Raymond Chandler hat den Privatdetektivroman geradezu in Stein gemeißelt. Unkopierbar. Wegen seiner bilderreichen Sprache, einer aus US-Straßenslang – den Chandler, aufgewachsen in England, wie eine Fremdsprache lernen musste – verdichteten Kunstsprache von unvergleichlicher Prägnanz: Philipp Marlowe über Kunstblondinen: Sie trug lange blonde Haare mit kurzen schwarzen Wurzeln. Philipp Marlowe über Swimmingpools: Nichts ist leerer als ein leerer Swimmingpool. .Philipp Marlowe über übertriebene Kleidung: Er war ein großer Mann, nur knapp zwei Meter groß und nicht ganz so breit wie ein Bierwagen. Er trug einen plüschigen Borsalino, eine graue Sportjacke mit weißen Sportbällen anstelle von Knöpfen, ein braunes Hemd, einen gelben Schlips, eine weite scharfgebügelte graue Flanellhose und Krokoschuhe mit weiß an den Spitzen explodierenden Kappen. Er sah etwa so unauffällig aus wie eine Tarantel auf einem Quarkkuchen.
Seit der Reaganära werden in den USA alle ungeklärten Sexualmorde und Mordfälle ohne erkennbares Motiv dem FBI gemeldet. Alle Serienmorde sind zudem automatisch Bundesangelegenheiten. Gut 20.000 Morde verzeichnet die US-Statistik pro Jahr, davon bleiben im Schnitt 5000 ungeklärt. Wahrscheinlich ein Viertel dieser rätselhaften Bluttaten geht auf das Konto von den Opfern völlig fremden Mehrfachtätern, die aus purer Mordlust töten. Das FBI geht davon aus, dass der durchschnittliche Serienmörder im Laufe seiner acht bis fünfzehn Jahre währenden Karriere zehn bis zwölf Menschen tötet und errechnet auf Grund dieser Schätzungen eine Zahl von rund 500 aktiven Killern, die über Jahre die USA mordend durchstreifen. Anfang der 80er befragte das FBI 36 einsitzende Serienmörder. Die Ergebnisse dieser Interviews hielten sie jeweils in einem siebenundfünfzig Seiten langen Protokoll fest: Danach zeichnen den idealtypischen Serienmörder folgende Merkmale aus:
- Er ist in hundert Prozent aller Fälle männlichen Geschlechts.
- Seinen Opfer sind zu mehr als 90 Prozent weiblichen Geschlechts.
- Sein Durchschnittsalter beträgt 20 bis 40 Jahre.
- Er ist überdurchschnittlich intelligent.
- -Er ist zu mehr als achtzig Prozent europäischer Abstammung.
- Er tötet nur Angehörige der eigenen Rasse.
- Er gehört zu Mittelklasse.
- Trotzdem ist sein Vater überdurchschnittlich strafauffällig.
- Er ist Opfer sexuellen Missbrauchs.
- Er ist ein pathologischer Lügner.
- Er beginnt seine Gewalttäter Karriere mit vorsätzlicher Brandstiftung und systematischer Tierquälerei.
- Er ergreift die notorischen Einzelgängerberufe. Zeitungsausträger, Wachmann, Pförtner, Hausmeister.
Für den Tathergang gelten folgende spezifische merkmale:
- Wiederholungszwang. Solange man den Täter nicht erwischt, mordet er weiter.
- Der Serienmörder mordet unter vier Augen und bevorzugt Mordmittel mit Körperkontakt.
- Täter und Opfer kennen sich nicht.
- Der Serienmörder hat den abstrakten Tötungstrie b, er begeht keine Leidenschaftstaten im herkömmliche Sinn und wird auch nicht durch das Opfer provoziert.
- Der Serienmörder ist der intellektuelle Killertypus, der seine Bluttaten wie nach Drehbuch inszeniert und bewusst in kulturgeschichtliche Zusammenhänge stellt. Prototyp eines Serienmörders mit Bildungsbürgeranspruch ist der britische Moormörder Ian Brady. Inspiriert zu seinen Morden haben ihn folgende Werke: Schuld und Sühne von Dostojewski, Justine von Marquis de Sade und Mein Kampf von Adolf Hitler.
- Der Serienmörder mordet nicht, um nach vollzogener Vergewaltigung seine Spuren zu verwischen, sondern die Abschlachtung des Opfers ist krönender Abschluss einer ritualisierten sadistischen Phantasie.
Auf die FBI Studie mit 36 Serienmörderinterviews haben sich zahllose Krimiautoren gestützt. Bei der Thomas Harris Verfilmung Das Schweigen der Lämmer haben Profiler aus Quantico als Berater fungiert. Da sorgfältig arbeitende Autoren semidokumentarisch arbeiten, das heißt, Quellen wörtlich zitiert in ihre Fiction einarbeiten, um dien Authentizitätsgrad zu steigen, wird jeder Leser eines Serienmörderromans der 80er und 90er Jahre in ein makaberes literarisches Tonstudio versetzt: Aus den Kopfhörern wispern die Pamphlete, Ausrottungsprogramme und Rechtfertigungsarien verschiedenster Killer. Authentische Selbstporträts sehr begabter neurotischer Mörder, aufbereitet durch sehr clevere Thrillerautoren. Das war vor fünfzehn das absolut Neue an diesem Subgenre des US-Krimis, das durch die Studie des FBI angestoßen wurde.
Wer Filme von Quentin Tarantino kennt, Pulp Fiction, Jackie Brown oder Reservoir Dogs, der wird Zeuge einer langen Tradition, auf die diese Kinostreifen zurückgreifen Die hässlichen Amerikaner nennt der Krimikritiker Jochen Schmidt Autoren wie Jim Thompson oder Jaimes M. Cain, Verfasser einer Art von Büchern, die nicht interessiert ist an der Aufklärung eines Verbrechern und schon gar nicht daran, dass der Täter der Justiz übergeben wird. Sie interessiert nur noch das Verbrechen selbst, die Gesellschaft, in der es stattfindet und der Verbrecher, der seine Taten selbst erzählt. Elmore Leonard, Tom Kakonis, Carl Hiaasen und Charles Willeford. haben in den 80er das Genre Gangster, Berufsverbrecher, Berufsmörder einer Runderneuerung unterzogen und mit immer höllischerem Humor aufgeladen. In ihren Romanen herrscht die nackte Verzweiflung, aber man lacht darüber. Ein besonders gelungenes Beispiel dieser Gattung ist Miami Blues von Charles Willeford, der zusammen mit dem Miami Herald Kolumnisten Carl Hiaasen die Gattung erfunden hat die ich Florida Noir oder Crime aus den Subtropen nenne.
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Nick Stone, Mr Clarinet, Publisher: Penguin, 568 Seiten
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Manfred Sarrazin
Für die Buchhandelsführungen Seitenweise
in Köln in den Jahren 2006 ff.